Es ist kurz nach halb 10, die Pausenglocke hat eben geläutet. »Einen Speckkuchen bitte«, sage ich und schiebe die 50 Cent über den Tresen. Ich stelle mich an die Seite und nehme einen Bissen, als meine Mitschülerin im Vorbeilaufen zu mir sagt, ich solle den Speckkuchen lieber nicht essen und kichernd weiter geht. Sie ist es auch, die auf dem Weg zur Schulküche hinter mir die Treppen hochgeht und mich Fettarsch nennt. Sie, mit ihrer schmalen Taille, ihrem runden Po und den voluminösen krausen Locken.
Die Schulzeit war für mich oft nicht leicht. Aussagen wie »Für die Mückenstiche brauchst du doch keinen BH«, die mich vor dem Sportunterricht in der Umkleidekabine erwarteten, endeten meist in lauten Gelächter. Für meine Figur wurde ich viele Jahre gemobbt, obwohl ich nie wirklich dick war. Oft saß ich nach der Schule da und weinte, weil ich mit jedem Blick in den Spiegel, etwas an mir entdeckte, das „hässlich“ war. Mit 13 Jahren beschloss ich, mir eine neue Nase machen zu lassen, wenn ich alt genug war. Ich bildete mir ein, meine Nase sei größer und breiter als die der anderen Mädchen aus meiner Schule. Stundenlang kurvte ich auf irgendwelchen ProAna-Seiten im Netz herum, um mir „Tipps“ zu holen, schnell schlank zu werden. Ich kaufte eine Zeit lang nur noch längere T-Shirts, damit man meinen Po nicht sehen konnte.
Das erste Mal Anerkennung von Gleichaltrigen für meinen Körper bekam ich, als ich während meines ersten Ausbildungsjahrs binnen drei Monate knapp 14 Kilo verlor. Dass dies der ungesündeste und schlechteste Weg war abzunehmen und mir meinen Stoffwechsel zerschießen würde, war mir in dem Moment nicht bewusst und wenn, wäre es mir womöglich egal gewesen. Ich bekam Komplimente und fühlte mich das erste Mal seit langem gut und richtig in meinem Körper.
Ich wollte mehr davon und entwickelte mit der Zeit eine Essstörung – zählte Kalorien und führte jeden Tag Tabelle über mein Gewicht. Meine Laune hing von der Anzeige der Waage ab.
Nachdem meine Eltern mich endlich davon überzeugten, dass mein Weg nicht der richtige Weg war kehrte ich nach und nach zu einer normalen Essgewohnheit zurück, was zur logischen Folge hatte, dass mein Gewicht wieder stieg. Anfangs war ich damit d’accord, doch das hielt nicht lange. Neben den hasserfüllten Kommentaren, die ich über mich auf meinem Blog lesen musste, hatte ich noch dazu einen Kerl an meiner Seite, der keine Gelegenheit ausließ, mir in meine Speckröllchen zu kneifen und mir so suggerierte, dass ich zu dick sei und wieder abnehmen sollte. Da er ein notorischer Fremdgänger war, der sich immer und überall von anderen Frauen einen Egopush abholen musste, bekam ich Angst. Ich hatte Angst, sein Verhalten könnte an mir und meiner Figur liegen, weil ich ihm nicht schön und nicht gut genug war. Nach seiner sechsmonatigen Weltreise war ich die Kilos los und – rückblickend – glücklicherweise auch den Mann! Doch die verzerrte Wahrnehmung meines Körpers blieb.
Gibt man bei Google „Selbstliebe“ ein findet man unter den ersten 10 Treffern mindestens einen Ratgeber, 33+ Übungen und die fünf besten Tipps für mehr Selbstliebe. Selbstliebe ist nicht leicht und wie die Süddeutsche vor Jahren berichtete „Viele Menschen spüren sie kaum“. Ich lebe schon seit vielen Jahren im Clinche mit meinem Körper – hier habe ich bereits darüber geschrieben. Doch warum ändere ich nicht einfach etwas an der Situation? Warum treibe ich nicht einfach mehr Sport, um ein gutes Körpergefühl zu entwickeln und mich selbst lieben zu können? Ganz einfach: weil Selbstliebe nicht immer mit der Realität korreliert. Weil die Diskrepanz zwischen dem was man weiß – zumindest in der Theorie – und dem was man tun möchte, nämlich sich selbst zu akzeptieren und zu lieben, nicht immer das ist, was man auch tun KANN.
Ich weiß, dass der Trend immer mehr zur body positivity geht und immer mehr Stimmen a la don’t judge others for their body laut werden. Dass meine Freunde und die Leute, deren Meinung mir wichtig ist, nichts von dem denken und in mir sehen, was mir früher von anderen infiltriert wurde. Ich weiß, dass Frauen wie Sarina Nowak, Ashley Graham oder Charlotte Kuhrt für ihre Kurven gefeiert werden. Weil sie das verkörpern, was wir alle schon wissen: dass es viel wichtiger ist, sich in seinem Körper wohl zu fühlen, anstatt irgendwelchen erfundenen Schönheitsidealen hinterher zu laufen. Man braucht kein 90-60-90, keine gebräunten Beine bis zum Himmel oder straffe Brüste um glücklich zu sein.
Es geht mir nicht um mein Gewicht. Es geht nicht darum, auf hohem Niveau zu jammern, weil meine Beine angeblich zu dick, mein Bauch zu chubby, mein Doppelkinn zu dick und meine Haare zu dünn sind. Zu dick, zu dünn – wer entscheidet eigentlich die Norm, mit der man sich immerzu vergleicht? Es geht um das Gefühl und die Beziehung, die ich zu meinem Körper führen möchte. Es ist mir egal, ob meine Waage an dem Tag, an dem ich endlich anfange, mich selbst zu mögen, 67 Kilo oder 77 Kilo anzeigt – wichtig ist doch, dass ich mich so mag wie ich bin. Dass ich mich und meinen Körper schätzen und akzeptieren, und ihn wie eine beste Freundin achtsam und liebevoll behandeln kann. Ich möchte den gedanklichen Ballast abwerfen. Ich möchte vor dem Spiegel stehen und sagen können »Ich bin gut so wie ich bin!« Und genau SO starte ich nun jeden Tag; indem ich mich vor den Spiegel stelle und mir genau DAS sage! Jeden Tag – bis ich es mir endlich verinnerlicht habe! Manchmal gelingt es mir nicht, doch jeder Tag hat nur 24 Stunden – also probiere ich es morgen einfach erneut. Mein Weg zur Selbstliebe!
Ein sehr interessanter Einblick in Deine Beziehung zu Deinem Körper. Auch ich war und bin immer jemand gewesen, der sehr im Zwiespalt mit seinem Körper war, obwohl ich nie wirkliche Gewichtsprobleme hatte. Meines Erachtens nach ist es oft der „zwanghafte“ Vergleich mit anderen – vor allem mit erfolgreichen – Menschen in seinem Umfeld. Das erzeugt einen inneren, automatischen Druck, es genauso hinzubekommen. Aber das ist letztlich Selbstbetrug und bringt einen kein Stück weiter. Man muss lernen, sich selbst so zu akzeptieren, wie man isst. Das heißt natürlich nicht, das man nicht auch selbst ein wenig kritisch mit sich sein darf. Aber irgendwelche Zwanghaftigkeit bringt einen nicht weiter.
Meine Frau denkt auch immer, sie sei zu dick. Ok, sie ist eine etwas größere Frau, aber das betrifft den ganzen Körper und nicht nur Problemzonen. Daher ist sie wiederrum eine sehr schöne Frau 🙂
Ich sage ihr immer: solange sie sich ihrem Körper angemessen verhält und stylt, braucht sie sich nicht zu verstecken. Und sie passt problemlos in gut sitzende Jeans … 🙂