Seit Wochen denke ich darüber nach, diesen Text zu schreiben. Tausende Gedanken schossen mir auf dem Nachhauseweg, beim Duschen oder in den letzten paar Minuten vor dem Einschlafen durch den Kopf. Bis heute habe ich mich davor gedrückt und jetzt weiß ich nicht, wo ich anfangen soll. Der Cursor flackert im Takt zum Ticken des Weckers. Es ist 02:04 Uhr. Ich öffne einen neuen Tab und tippe ein: loslassen.
*
„Ich glaube es wäre doch ganz gut, wenn du vorbei kommst und dich verabschiedest.“
Als mein Vater mit gebrochener Stimme diesen Satz ins Telefon flüstert, beginn mein Herz zu rasen. Keine 10 Minuten später sitze ich in der nächsten Bahn, auf dem Weg ins Krankenhaus. Als ich die Türklinke herunterdrücke und das Zimmer betrete, huscht ein kleines Lächeln über ihre Lippen. Ich küsste sie auf die Wange und setzte mich zu ihr ans Bett. Behutsam streichelte ich über ihre Hand, an der sie ihren Lieblingsring trug und auch wenn es ihr schwer fiel, sprachen wir ein paar Worte miteinander. Es sollte der letzte Tag sein, an dem ich ihre Stimme hörte.
Ab jenem Tag verschlechterte sich ihr Zustand rapide von Tag zu Tag. Als sie nicht mehr sprechen konnte bat ich sie darum, meine Hand zu drücken, wenn sie mich hörte. Einmal für „Nein“, zweimal für „Ja“. – „Weißt du noch…“ fing ich an und erzählte ihr von Ostern 1996, als ich in ihrem Garten Ostereier suchte. Ich kleines Persönchen, in meinem roten Mantel, freudestrahlend mit einem Osternest in der Hand. Sie drückte zweimal vorsichtig meine Hand.
Ich hatte am darauf folgenden Abend Stunden damit verbracht, das Foto zu finden. Ich kramte in allen möglichen Schränken und Boxen, ich wollte es ihr unbedingt mitbringen. Doch als ich am nächsten Tag am Krankenhaus ankam erfuhr ich, dass sie nicht mehr sehen konnte. Sie war plötzlich einfach erblindet. Eine Stunde lag ich neben ihr im Bett. Hörte ihr beim Atmen zu und strich ihr immer wieder sanft über die Wange. Stumme Tränen rannen mir über die Wangen, als ich ihr von meinem Balkon erzählte und versprach ihr, dass sie dort bald mit mir Kaffee trinken würde.
Es war ein Donnerstag. Zur Linken des Bettes saß mein Vater, zur Rechten ihre Schwester. Beide hielten sie ihre Hand. Die Luft war stickig und abgestanden. „Lena, öffne doch bitte kurz das Fenster.“ Ich wandte meinen Blick von ihr ab, ging zum Fenster und öffnete es.
Ein kleiner Windstoß fuhr in die Vorhänge und als ich mich umdrehte und in ihr Gesicht blickte, öffnete sie ihre Augen, sah mich an und hörte einfach auf zu Atmen.
Ab diesem Moment zog alles nur noch in einem Schleier an mir vorbei. Wie ferngesteuert ging ich an meinem Vater vorbei, dessen Welt sich in diesem Moment aufgehört hatte zu drehen. Ich öffnete die Zimmertüre und sackte an der Wand zusammen. Schwestern rannten an mir vorbei, ich hörte die Stimmen doppelt so laut und doch verstand ich kein Wort. Das Gesicht meiner Mutter tauchte vor mir auf, während heiße Tränen mein Gesicht fluteten. Sie hielt mich fest und so saßen wir eine Weile im Flur des Krankenhauses. Gefühlt dauerte es Stunden, bis mich meine Beine wieder tragen konnten. Jeder bekam seine Zeit mit ihr. Als meine Zeit gekommen war ertappte ich mich dabei, wie ich neben ihr saß und jeden Moment darauf wartete, dass sich ihre Brust wieder hob und sank. Ich küsste ihre Stirn, ihre Wangen und ihre Hände. Loslassen…
Als ich am Abend das Krankenhaus verließ und nach meinem Schlüssel krame, bleibe ich abrupt stehen. Anstatt des Schlüssels fühle ich ein Stück Papier zwischen meinen Fingern. Es war das Foto von mir in ihrem Garten, Ostern 1996.
Ich hatte so schreckliche Angst vor diesem Moment und das Schlimmste war, dass ich dachte, wir hätten mehr Zeit. Ich hatte mir gewünscht, SIE hätte mehr Zeit. Hatte sie schon gewusst, dass sie sterben wird, als ich ihr von meinem Balkon und dem roten Mantel erzählt habe? Wartete sie einfach nur auf den richtigen Moment um zu gehen? Wollte sie möglichst alle Lieben bei sich haben? Das alles schießt mir immer wieder durch den Kopf und ich kann noch immer nicht akzeptieren, was vor zwei Jahren passierte. Ich frage mich, ob es der Krebs war, der zurück kam? War es ärztliches Versagen oder war ihre Zeit einfach viel zu früh abgelaufen? Auch Vorwürfe mischen sich unter…
Zwei Wochen vorher freute sie sich noch quietschfidel auf den Urlaub im Norden. Dann, am 18. Juni 2015 hörte das Herz meiner Großmutter einfach auf zu schlagen. Vor ein paar Wochen setzte ich das erst Mal nach 1,5 Jahre einen Fuß in ihre alte Wohnung. Und obwohl zwischenzeitlich dort jemand übergangsweise lebte, roch es dort immer noch nach ihr. Als wäre sie gerade im Urlaub, im Norden. Als würde sie in ein paar Tagen wieder zurück kommen und mir einen neuen „Cuxhavener Pott“ mitbringen. Von diesem Gedanken muss ich mich verabschieden, ich muss ihn loslassen und endlich akzeptieren.
Das Loslassen beginnt mit einem einzigen Satz: „Ich bin bereit, loszulassen.“ Ich schließe die Augen und flüstere: „Nein, bin ich nicht.“
Ich bin sprachlos…
Ich kenne dieses Gefühl, welches du beschreibst sehr gut. Ich habe vor ca. einem Jahr mein Vater verloren. Bis zum letzten Atemzug saß ich an seinem Bett und hab seine Hand gehalten. Der Moment, wo er gestorben ist, plötzlich aufgehört hat zu atmen, wird mir ein lebenlang im Gedächtnis bleiben, sowas vergisst man einfach nicht. Man möchte es erst gar nicht wahrhaben wenn man sich verabschieden muss, wenn man plötzlich die Türe schließen muss und man diese Person nie wieder sehen kann. An manchen Tagen sind die Gedanken sehr nah und sie tuen weh, an anderen ist es leichter. Aber ich glaub man kann nie ganz loslassen, man wird immer an die Person denken, aber ich glaub das ist auch wichtig, man soll die Person nicht vergessen, wer soll sich sonst an sie erinnern? Ich wünsche dir jedenfalls viel Kraft weiterhin, egal wie lange es her ist, man braucht sie immer, eine geliebte Person zu verlieren ist ein Schmerz der ewig hält. Du hast den Text wahnsinnig schön und berührend geschrieben, ich kann mich total hineinversetzen! Liebe Grüße!
Autor
Davor, meine Eltern zu verlieren, habe ich auch schon wahnsinnig Angst… Ich danke dir von Herzen, dass du dir die Zeit genommen hast, einen so umfassenden Kommentar zu schreiben und mir auch ein bisschen was von dir zu erzählen ♥ auch dir ganz viel Kraft!
Wow dieser Text ist sehr atemberaubend. Ich finde es gut das du darüber schreibst, denn vielleicht hilft dir das Schreiben ja ein bisschen. Ich hoffe einfach das es dir bald ein wenig besser gehn wird. Übrigens, habe ich großen Respekt davor das du dich traust sowas öffentlich zu stellen. Alles gute dir.
Xoxo Jeanette
Autor
Liebe Jeanette, danke für deinen Kommentar. Das Thema gehört genau so gut wie Mode oder Lifestyle zum Leben dazu, warum also nicht darüber schreiben…? Manche Leute fressen einfach alles in sich hinein und gehen irgendwann daran kaputt. Manchmal wirkt so ein Beitrag aber auch wie ein kleiner Befreiungsschlag. Dir auch alles Gute ♥
So ein sensibles Thema und so schön geschrieben mein Schatz <3 Glaube kommt an den Punkt, an dem er sagt "Jetzt habe ich losgelassen" – irgendwas bleibt immer, aber das ist ja auch gut so!
Autor
Danke Baby ♥
Jedes Mal, wenn ich diese eine Kolumne von dir lese, sitze ich mit Tränen in den Augen vor meinem Handy..
Und gerade jetzt eher heulend wie ein Schlosshund, weil ich deine Gefühle so unglaublich nachvollziehen kann. Meine Oma starb Ende Januar und bei uns kam es plötzlich, wir hatten keine Möglichkeit uns zu verabschieden, außer in der Nacht als sie mit Schläuchen zum Herzen, wie schlafend in diesem Dämmerlicht, vor uns lag…
Ich glaube, jeder der seine Oma so unglaublich geliebt und verloren hat, kann deine Gedanken und Gefühle verstehen… es braucht Zeit und davon viel um damit zurecht zu kommen…und man wird sie definitiv immer vermissen – ein so wichtiger Teil des eigenen Lebens…
Auf dass sie ewig in unserem Herzen weiterleben…